Der Kuss zweier Frauen

In Demis Volpis Neuinterpretation des Ballettklassikers „Giselle“ ist manches anders. Doch nur, weil sich zwei Frauen auf der Bühne küssen und männliche Tänzer in Tutus herumwirbeln, muss sich niemand aufregen – findet auch die Mehrheit des Publikums.

Bild: Doris Becker und Futaba Ishizaki
Demis Volpi „Giselle“: Doris Becker (Bathilde) und Futaba Ishizaki (Giselle) // Foto: Bettina Stöß

Pünktlich zum Pride Month, und während konservative Kreise sich übers Gendern oder Kinderbuchlesungen mit Drag Queens echauffieren, zeigt das Ballett am Rhein auf der Bühne des Düsseldorfer Opernhauses den Kuss zweier Frauen und männliche Tänzer mit Tutus und Perücken. Die Lokalpresse sieht eine „Ballettpremiere mit Sprengkraft“, doch das Publikum ist hellauf begeistert. In den Applaus mit stehenden Ovationen mischen sich nur vereinzelt Buh-Rufe. Offenbar ist der von Demis Volpi „queer gebürstete“ Ballettklassiker, wie die Rheinische Post schreibt, alles andere als ein Aufreger.

 

Bild: Demis Volpi bei einer Probe für „Giselle“
Ballettdirektor und Chefchoreograph Demis Volpi bei einer Probe für „Giselle“ // Foto: Daniel Senzek

Demis Volpi und sein künstlerisches Team haben sich intensiv mit dem klassischen Libretto von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges und Théophile Gautier auseinandergesetzt. Die beiden Franzosen hatten 1841 für „Giselle“ eine von Heinrich Heine wenige Jahre zuvor wiederentdeckte Sage als Inspiration gewählt. Darin treiben vor der Hochzeit verstorbene Bräute als sogenannte Wilis des Nachts ihr Unwesen und stürzen Männer mit ihren Tänzen in den Tod. Diese Geschichte bildet den zweiten Teil des Giselle-Balletts.


Im ersten Akt geht es um die verlorene Liebe von Giselle, einem Bauernmädchen, zum Adeligen Albrecht, der seiner Verlobten Bathilde aber den Vorzug gibt. Giselle tanzt sich in den Tod und verhindert später im zweiten Akt, dass die Wilis auch ihrem geliebten Albrecht den Tod bringen. Neben dem ausgiebig gezeigten Spitzenschuhtanz ist das Ballett Giselle auch durch die über die Bühne schwebenden, weiblichen Wilis in ihren langen weißen Tutus bekannt geworden. Doch mit dieser Tradition wollte das Volpi-Team offenbar brechen.

 

Bild: Futaba Ishizaki und Doris Becker
Demis Volpi „Giselle“: Futaba Ishizaki (Giselle), Doris Becker (Bathilde) // Foto: Bettina Stöß

In der Neuinszenierung für das Ballett am Rhein treffen sich Bathilde, die Verlobte von Albrecht, und die Tänzerin Giselle nach einer Ballettaufführung hinter der Bühne. Es ist offenbar Liebe auf den ersten Blick, es kommt zum innigen Kuss. Zelebriert wird dies mit einer glitzernden Party. Doch Bathilde geht zurück zu Albrecht, und Giselle verfällt daraufhin dem Wahnsinn. Später (im zweiten Akt) blickt die alte Bathilde auf ihr Leben zurück und fragt sich, wie dieses wohl verlaufen wäre, wenn sie das Leben mit Giselle geteilt hätte. Auch hier spielen die Wilis eine wichtige Rolle, doch sind es bei Volpi nicht nur Frauen, sondern auch männliche Tänzer im weißen Kleid.

 

Bild: Doris Becker und Ensemble Ballett am Rhein
Demis Volpi „Giselle“: Doris Becker, Ensemble Ballett am Rhein // Foto: Bettina Stöß

Wirklich kein Grund, sich aufzuregen. Aber auch kein Grund, die Inszenierung wegen ihres Mutes über den Klee zu loben. Die Neuinterpretation ist vielmehr ein unaufgeregtes Beispiel dafür, wie Normales als solches dargestellt wird. Da lieben sich zwei Frauen, und Männer tragen Kleider – was soll‘s?! Vielmehr könnte man sich fragen, warum man nicht auch gleich die sehr liebliche Musik gegen zeitgenössische Klänge ersetzt. Das hätte dann vielleicht den einen oder anderen Aufreger rechtfertigen können.

 

Bild: Futaba Ishizaki, Daniele Bonelli und Doris Becker
Demis Volpi „Giselle“: Futaba Ishizaki (Giselle), Daniele Bonelli (Albrecht), Doris Becker (Bathilde) // Foto: Bettina Stöß

Wer Handlungsballett mag, kommt hier ganz auf seine*ihre Kosten. Beeindruckend ist die tänzerische und schauspielerische Leistung von Futaba Ishizaki (Giselle) und Doris Becker (Bathilde). In weiteren Rollen sind Daniele Bonelli (Albrecht) und Damián Torío (Hilarion) zu erleben. Doch wie so oft im Handlungsballett kommen die übrigen Tänzer*innen der Kompanie kaum dazu, ihr tänzerisches Können zu zeigen. Dennoch sind die choreografischen Bilder – insbesondere, wenn die Wilis über die Bühne schreiten – ein Hingucker. Die romantische Musik von Adolphe Adam steuern ganz hervorragend die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Mark Rohde bei.

 

Weitere Aufführungen im Opernhaus Düsseldorf:
Di 20.06.2023 (19:30 - 21:15), Do 22.06.2023 (19:30 - 21:15), Sa 24.06.2023 (19:30 - 21:15),

Do 09.11.2023 (19:30 - 21:15), So 12.11.2023 (15:00 - 16:45), So 19.11.2023 (18:30 - 20:15),

Fr 24.11.2023 (19:30 - 21:15), Do 07.12.2023 (11:00 - 12:45), Do 28.12.2023 (19:30 - 21:15),

Sa 30.12.2023 (19:30 - 21:15), So 31.12.2023 (19:00 - 20:45), Do 04.01.2024 (19:30 - 21:15),

So 07.01.2024 (18:30 - 20:15)


Infos unter: www.operamrhein.de

 

Text: Oliver Erdmann