Sehnsucht nach der verlorenen Liebe

In seinem Roman „Sehnsucht nach der verlorenen Liebe“ erzählt der niederländische Autor Werner Vermeulen die Liebesgeschichte zweier junger Männer aus dem Sudetenland. Detailreich beschäftigt er sich dabei mit den Themen Vertreibung und Transsexualität.

Bild: Buchcover "Sehnsucht nach der verlorenen Liebe"

Anna ist ein Star in ihrer Wahlheimat Den Haag. Die divenhafte Chansonnette steht allabendlich mit bekannten Liedern auf der Bühne und verdreht mit ihrem Auftreten auch außerhalb des Theaters den Männern den Kopf. Auch der junge Dima fühlt sich magisch von ihr angezogen und beginnt mit ihr eine Affäre, von der er sich zugleich erhofft, dass sie ihn in seinem Leben voranbringt. Dima will bei der Zeitung arbeiten und bittet die Berühmtheit Anna um ein Interview. Als dieses nach einigem Hin und Her zustande kommt, verändert sich auch für Anna das Leben.


Doch eigentlich hat sich Annas Leben schon vor längerer Zeit in mehrfacher Hinsicht verändert. Sie wächst in einem tschechischen Dorf als Andreas auf. Ihre Familie – wie alle im Dorf – gehört der Volksgruppe der Sudetendeutschen an. Andreas‘ bester Freund ist Wolf. Zusammen gehen sie durch dick und dünn und entwickeln schließlich auch intensivere Gefühle füreinander. Die Jungenliebe im von den Nazis annektierten Sudentenland wird jäh auseinandergerissen, als es nach dem Zweiten Weltkrieg zur gewaltsamen Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei kommt.


Auf der Flucht werden die beiden getrennt und verlieren sich aus den Augen. Wolf kommt bei Bauern in der Nähe von Frankfurt unter, die die Hilfe eines kräftigen jungen Mannes gut gebrauchen können und ihn später auf seiner Laufbahn zum Bildenden Künstler unterstützen. Andreas lernt unterdessen in einem Auffanglager im bayrischen Giebelstadt den amerikanischen Soldaten Mark kennen, der ihn schließlich in die USA mitnimmt, wo er in einem Nachtclub in San Francisco seine Karriere als Travestiekünstlerin startet. Doch das Tragen von Frauenkleidern ist für Andreas mehr als eine Verkleidung.


Mehr und mehr reift in ihm die Überzeugung, dass das Frau-Sein schon immer seine eigentliche Identität gewesen ist. Aus Andreas wird Andrea, die sich schnell zu einer Geschlechtsanpassung entschließt und sich als Künstlerin forthin Anna nennt. Ihre Lebensgeschichte vertraut sie Jahre später ihrem neuen Freund Dima an, der von dem Bühnenstar das Okay zur Veröffentlichung seines Interviews erhält. Ihre Jugendliebe Wolf bleibt bis dahin verloren. Erst als der aufstrebende Maler von einer Galerie in Den Haag entdeckt wird, nimmt die Geschichte ihren Lauf.

 

Bild: Werner Vermeulen
Werner Vermeulen // Foto: BOOY-VERLAG mit freundlicher Genehmigung

Buchautor Werner Vermeulen lebt mit seinem Mann in Den Haag und hat nicht zuletzt deswegen einen Teil der Handlung in die südholländische Stadt verlegt. Hier kennt er sich aus, beschreibt mit viel Liebe zum Detail Orte und Schauplätze. Auch das Sudetenland hat er im Zuge seiner Recherche bereist, denn dort liegt die Heimat seiner eigenen Familie. Vermeulens Großmutter hat ihm viel über die schwierige Situation in der Nachkriegszeit berichtet. Gespräche mit weiteren Zeitzeugen führten dazu, dass seine Schilderungen über die Vertreibung der Sudetendeutschen aus dem heutigen Tschechien sehr anschaulich sind.


So gelingt es ihm, zum einen das Aufwachsen und die ersten Gefühle zweier schwuler Jungs gefühlvoll herüberzubringen und zum anderen die schmerzhafte Tragödie von Vertreibung aus der Heimat und vom Verlust des liebsten Menschen zu schildern. Dass der eine schließlich seine Transsexualität entdeckt, die für das zukünftige Verhältnis der Protagonisten dann eine noch größere Herausforderung darstellt, ist ein Aspekt in Werner Vermeulens Roman, der diesen sehr komplex macht. Zu komplex? Nein, denn für die Geschichte ist dieser Gesichtspunkt unentbehrlich. Doch die Schilderung der Transition kommt etwas sehr scherenschnittartig daher, und man hätte sich an dieser Stelle genauso viel Recherchetiefe gewünscht wie bei den übrigen Themen.


Apropos Recherche: Die Geschichte der Vertreibung wird seit Kurzem in zwei bedeutenden Dauerausstellungen dargestellt. In Berlin wurde in diesem Sommer das „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ eröffnet − ein einzigartiger Lern- und Erinnerungsort zu Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration in Geschichte und Gegenwart. [www.flucht-vertreibung-versoehnung.de]

Und seit Mitte November 2021 erinnert in Tschechien die Ausstellung „Unsere Deutschen“ im Stadtmuseum in Usti nad Labem an die nach dem Zweiten Weltkrieg vertriebenen Deutschen.

 

Werner Vermeulens Buch „Sehnsucht nach der verlorenen Liebe“ ist eine komplexe Geschichte über eine schwule Liebe, über selbstbestimmtes Leben und über die Vertreibung einer ganzen Volksgruppe. In einem fast 40-seitigen Anhang ergänzt Vermeulen seine fiktive Geschichte mit Infotexten und Fotos zu Schauplätzen des Romans sowie zur aktuellen LGBTIQ-Politik in der Europäischen Union.

 

Werner Vermeulen
Sehnsucht nach der verlorenen Liebe
480 Seiten, Softcover, 22,80 Euro
BOOY-VERLAG | ISBN 978-3-9817809-5-6 

 

Text: Oliver Erdmann