Zehn Fragen an Amit Marcus

Amit Marcus engagiert sich seit Jahren für queere Migranten und Geflüchtete. In seinem Job für das Projekt PRADI und ehrenamtlich im Karnevalsverein Okzident-Orient-Express. Düsseldorf Queer wollte mehr über Amits Tätigkeitsbereich erfahren.

Bild: Amit Marcus
Amit Marcus leitet seit fünf Jahren das Projekt PRADI bei der Aidshilfe Düsseldorf. // Foto: Oliver Erdmann

1_ Amit, Du bist seit fünf Jahren als Präventionsmitarbeiter bei der Aidshilfe Düsseldorf für das Projekt PRADI zuständig. Dort berätst Du schwule und bisexuelle Migranten und geflüchtete Männer. Worum genau geht es bei Deiner Arbeit?


PRADI steht für PRävention, AntiDiskriminierung und Integration – die drei Säulen des NRW-weiten Beratungsangebotes der Aidshilfe NRW für Männer* mit Migrations- bzw. Fluchthintergrund, die Sex mit Männern* haben. Männer der Zielgruppe werden im Rahmen des Projektes weiterhin zu Safer-Sex, Gesundheit, Testangeboten für HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen beraten. Als Antidiskriminierungsstelle setzt sich PRADI klar gegen jegliche Art von Diskriminierung ein, insbesondere Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung, geschlechtlicher Identität oder Herkunft. PRADI unterstützt seine Zielgruppe bei Diskriminierungserfahrungen, zum Beispiel in der Asylunterkunft, am Arbeitsplatz oder innerhalb der Familie. Im Bereich Integration helfen die Mitarbeiter des Projektes bei Ämtern, Behörden und rechtlichen Anliegen. Integration bedeutet für PRADI auch, andere Menschen kennenzulernen und voneinander zu lernen. Das heißt, dass die Ratsuchenden anderen Männern* mit ähnlichen Erfahrungen helfen.

2_ Viele werden PRADI noch unter dem Namen „You’re Welcome – Mashallah!“ kennen. Wie kam es im vergangenen Jahr zu der Umbenennung?


Auslöser des neuen Namens bzw. der neuen Wortmarke für das vor rund zehn Jahren gegründete Projekt der Aidshilfe NRW war, dass sich viele Ratsuchende vom alten Projektnamen nicht angesprochen fühlten. Das Wort „Mashallah“ stammt aus dem muslimischen Kulturraum, viele Ratsuchende des Projektes kommen jedoch aus christlich geprägten Ländern, wie z.B. Russland, Polen, Serbien und Ghana. Zusätzlich wollten sich viele der Ratsuchenden von der durch den ursprünglichen Namen angedeuteten Verbindung zwischen sexueller Orientierung und Religion distanzieren.

3_ Wer sucht Hilfe bei PRADI?


Die Hauptzielgruppe des Projektes in den letzten Jahren sind geflüchtete schwule und bisexuelle Männer*. Sie haben einen erheblichen Unterstützungsbedarf und nehmen Angebote in Anspruch. Sie kommen aus unterschiedlichen Ländern, von Russland bis Guinea, von Pakistan bis Algerien, wo sie unter vielerlei Aspekten diskriminiert, benachteiligt und abgelehnt werden. Sie können ihre sexuelle Identität nicht frei, bzw. nur mit großen Schwierigkeiten ausleben. Manche verheimlichen ihre sexuelle Identität generell. Dahingegen verhalten sich andere sehr selbstbewusst und sind geoutet, werden aber von ihren Familien abgelehnt. Manche waren sogar politisch aktiv für LSBTIQ*-Rechte in ihren Heimatländern. Die Altersspanne der Klienten ist sehr breit – von 18 bis ca. 55 Jahre alt.  

4_ Mit welchen Anliegen kommen diese Menschen zu Dir in die Beratung?


Schwule und bisexuelle Männer* sind nicht lediglich in ihren Heimatländern aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert und verfolgt. Auch in Europa werden sie häufig von ihren Familien und sozialen Umgebung abgelehnt, und sie haben Angst, sich zu outen oder (zwanghaft) geoutet zu werden. Die negative Einstellung zur eigenen Homosexualität – bezeichnet mit „internalisierter Homophobie“ oder „internalisierter Homonegativität“ – ist häufig auch mit einer schlechten psychischen Verfassung sowie mit vermeidendem oder riskantem Verhalten verbunden, die das Asylverfahren und die Integration in Deutschland erschweren. Der auf das Themengebiet spezialisierte und Community nahe Sozialarbeiter hat folgende Aufgaben:

  • Telefonische und persönliche Beratung in den Räumen der Aidshilfe oder auf Wunsch auch außerhalb zu den vielfältigsten Themen, wie z.B. Asylverfahren, Antragstellung auf Zuweisung oder Änderung der Wohnsitzauflage Integration, Antidiskriminierung, sexuelle Orientierung, geschlechtlicher Identität oder physische und psychische Gesundheit
  • Wöchentliche Gruppentreffen zu unterschiedlichsten Themenstellungen
  • Vermittlung an und Begleitung zu Ämtern, Behörden und Arztpraxen

 

5_ Welche Probleme haben queere Geflüchtete in den Unterkünften oder im Asylverfahren?


Das größte Problem für viele queere Geflüchtete ist immer noch ihr Aufenthaltsstatus bzw. die Ablehnung von Asylanträgen. Nach meinen Einschätzungen und Beratungserfahrungen, die nicht wissenschaftlich belegt sind, wurden über vierzig Prozent der Asylanträge schwuler und bisexueller Männer vom BAMF abgelehnt. Diejenigen, die verwirrt, unsicher, stark traumatisiert und weniger rhetorisch begabt sind, eine überzeugende, „glaubwürdige“ Verfolgungsgeschichte vorzutragen, werden am meisten abgelehnt. Darüber hinaus verschweigen viele ihre Homo- bzw. Bisexualität bei ihren Anhörungen vorm BAMF aus Angst, dass ihre Familie oder ihr soziales Umfeld durch die Dolmetscher*innen von ihrer sexuellen Orientierung erfahren werden. In manchen Fällen müssen sie ihre Asylgründe vorm BAMF vortragen, noch bevor sie ihr inneres Coming-out bewältigt haben. Die gute Nachricht ist, dass in vielen Fällen – wieder nach meinen Erfahrungen – die Asyleigenschaften der abgelehnten Schwulen und Bisexuellen vom Verwaltungsgericht anerkannt werden. Die schlechte Nachricht ist, dass es bis zum Gerichtstermin häufig zwei Jahre oder sogar länger dauert.

 

Ein zusätzliches schwieriges Problem für viele queere Geflüchtete liegt in der Art ihrer Unterbringung, in der die sexuelle Orientierung oder Identität überhaupt nicht berücksichtigt wird. In den Gemeinschaftsunterkünften wohnen Geflüchtete aus Ländern, in denen homosexuelle und trans*geschlechtliche Menschen staatlich und gesellschaftlich verfolgt werden. Homosexuelle und trans*geschlechtliche Schutzsuchende sind in solchen Einrichtungen ähnlichen Unterdrückungs- und Ausgrenzungsmechanismen wie in ihren Heimatländern ausgesetzt. Es ist vielfach belegt, dass es in den Gemeinschaftsunterkünften immer wieder zu Beleidigungen, Bedrohungen und sogar körperlichen oder sexuellen Übergriffen, wenn die gleichgeschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung von Schutzsuchenden bekannt wird. Auch im Rahmen der kommunalen Zuweisung wird die besondere Vulnerabilität der queeren zugewiesenen Geflüchtete kaum berücksichtigt. Sie werden häufig in kleine Städte und Dörfer zugewiesen, in denen es keine queere Szene und keine gruppenspezifischen Beratungsstellen gibt und wo sie sich einsam und isoliert fühlen.

 

PRADI Düsseldorf bemüht sich in Zusammenarbeit mit der Stadt Düsseldorf, die bisexuellen und schwulen Geflüchteten nach Düsseldorf zuzuweisen oder „umzuverteilen“. Hier können in den Schutzräumen LSBTIQ*-Personen untergebracht werden.

 

Bild: Amit-Elias Marcus
Amit Marcus hat stets ein offenes Ohr für die Probleme von queeren Migranten und Geflüchteten. // Foto: Oliver Erdmann

6_ Auf Bundesebene wird zurzeit über die Ausweitung des Ausländerzentralregisters gestritten. Zahlreiche Behörden sollen Zugriff auf Asylbescheide und Asylurteile im Volltext bekommen, in denen auch privateste Informationen wie die sexuelle Orientierung oder die geschlechtliche Identität verzeichnet sind, wenn diese den Schutzstatus begründen. Welche Gefahren birgt das?


Ich habe über den schweren Verstoß gegen Datenschutz, vor allem durch das BAMF, wie andere Menschen in Deutschland über die Medien mitbekommen und war davon entsetzt, nicht nur aufgrund der Verletzung von Menschenrechten, sondern auch weil es eindeutig aufzeigt, wie wenig Ahnung manche BAMF-Entscheider*innen von sexueller Orientierung und geschlechtlicher Identität in solchen homofeindlichen Ländern haben. Ich glaube nicht oder möchte nicht glauben, dass Entscheider*innen, die intime Daten über Geflüchtete in deren Heimatländern recherchieren oder weitergeben, sich vorstellen können, welche schlimmen Konsequenzen solche Ermittlungen für die Geflüchtete haben können. In der Tat können die Ermittlungskonsequenzen in manchen Fällen sich als einen zusätzlichen Asylgrund erweisen. Das (erzwungene) Outing von Menschen, die ihre Homo- oder Bisexualität im Verborgenen leben möchten, kann zu Diskriminierung und Ausgrenzung bis zum Suizid oder Mord führen.

7_ Wie hoch ist derzeit die Nachfrage an Beratung und anderen Hilfsangeboten für queere Migranten und Geflüchtete in Düsseldorf?


Es besteht in den letzten Jahren ein kontinuierlicher Anstieg der Nachfrage an Beratung. Von Januar bis Dezember 2020 nahmen das Beratungsangebot bei PRADI 141 Ratsuchende aus 34 Herkunftsländern wahr. Davon waren einige Paare geflüchtete Männer*. Somit hat die Anzahl der Ratsuchenden 2020 im Vergleich zu 2019 um etwa 25 Prozent zugenommen. Etwa zwei Drittel der Ratsuchenden haben ihren ersten Kontakt zu PRADI bereits vor 2020 aufgenommen. Auch 2021 haben wir bereits ca. 100 Ratsuchende (Stand Juli 2021). Manche möchten lediglich einmalig beraten werden, aber viele andere benötigen eine langfristigere Beratung und Betreuung. Dahingegen ist die Anzahl der Teilnehmer an den Gruppentreffen gesunken, zum Großteil allerdings durch die Covid-19-Schutzmaßnahmen. Die meisten Männer* erfahren von PRADI durch Mund-zu-Mund-Propaganda, andere durch Beratungsstellen für Geflüchtete oder über das Internet.

8_ Die Gruppentreffen von PRADI Düsseldorf fanden lange Zeit nicht bei Dir in der Aidshilfe statt, sondern in Räumen der AWO in Derendorf. Wie kam es dazu?


Seit Juni 2020 finden die Gruppentreffen von PRADI Düsseldorf in den Räumen der Aidshilfe statt. Am Anfang meiner Arbeit ging die Aidshilfe Düsseldorf davon aus, dass schwule und bisexuelle Migranten dazu tendieren, von jeglichem Kontakt zu den Räumen der Aidshilfe abgeschreckt zu werden. Aus diesem Grund suchten wir nach neutralen Räumen, die wir in der AWO in Derendorf gefunden haben. Die damals wöchentlichen Gruppentreffen waren ein wichtiger Teil eines Kooperationsprojekts zwischen PRADI Düsseldorf und Ataman Yildirim von der Migrationsagentur in der AWO, der sich für alle Minderheitenrechte gerne einsetzt. Die Zusammenarbeit mit der AWO lief sehr gut, aber allmählich erwies sich unsere Annahme bezüglich des Umgangs der Zielgruppe mit der Aidshilfe als falsch. Wenn die Männer* den Kontakt zu unserer Beratungsstelle finden und auch an Gruppentreffen für die Zielgruppe teilnehmen möchten, was in der Regel mit einem gewissen Grad von Selbstakzeptanz verbunden ist, dann haben sie auch keine Angst oder Scham, sich in den Räumen der Aidshilfe aufzuhalten. Umgekehrt, sie nehmen besonders gerne an unseren Sommerfesten und Nikolausfeiern teil sowie am CSD, und sie sind bei unserem Checkpoint-Angebot sogar überproportional vertreten.

9_ Welche Kooperationen würdest Du Dir noch wünschen? Was wünschen sich Deine Klienten?


Ich finde die Kooperationen innerhalb der Stadt Düsseldorf meistens sehr gut und produktiv. Aber leider bestehen zu wenige landesübergreifende Kooperationen zwischen Beratungsstellen für queere Geflüchtete und Migranten. Niemand hat Schuld daran – wir sind alle überlastet, aber unsere Klienten könnten mit Sicherheit von einer engeren Zusammenarbeit, insbesondere bei der Politik, profitieren.


Ich finde es schwer zu verallgemeinern, was meine Klienten sich wünschen, aber ich versuche es trotzdem: Selbstverständlich wünschen sich diejenigen, die noch im Asylverfahren sind oder deren Asylantrag abgelehnt wurde, einen Aufenthaltsstatus, welcher ihnen die Sicherheit gewährleistet. Viele wünschen sich, sich weniger einsam und entwurzelt zu fühlen und mehr Kontakte zu (bio-)deutschen Personen aufzubauen. Sie wünschen sich einen leichteren Zugang zu den deutschen Behörden sowie zum Arbeits- und Wohnungsmarkt, das Gefühl respektiert zu werden und die Möglichkeit, ihre innere Ruhe zu finden. 

Bild: Screenshot Kampagnen-Wedsite #IchDuWirNRW
Amit Marcus ist eines der Gesíchter für die Integrationskampagne '#chDuWirNRW des Landes Nordrhein-Westfalen. // Bild: Screenshot der Kampagnen-Website

10_ Du engagierst dich auch über deinen Job hinaus für die Integration und das Miteinander von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Kannst du etwas über die Aktion #IchDuWirNRW und deinen Karnevalsverein erzählen?


Menschen mit Migrationshintergrund werden im Karneval, geschweige denn in Führungspositionen von Karnevalvereinen, kaum vertreten. Diese Lebensrealität ist Ataman Yildirim von der AWO Integrationsagentur aufgefallen und er wollte dies ändern. So initiierte er 2019 den Karnevalverein Okzident-Orient-Express, dessen Vorsitzender er ist. Ich bin sein Mitläufer und Stellvertreter beim Verein. Zusätzlich zu dem Wunsch, Migrant*innen auch in Karnevalsvereinen stärker zu repräsentieren, möchten Ataman und ich LSBTIQ* und heterosexuelle cis-Menschen stärker vernetzen. Vielfalt bedeutet für beide, den Dialog und freundschaftliche Beziehungen zu fördern zwischen Menschen, die unterschiedlichen Religionen, Herkunftsländern, sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten zugehörig sind – durch gemeinsame Aktivitäten und Erfahrungen. Karneval ist eine hervorragende Gelegenheit, die Gemeinsamkeiten, die Solidarität und den Zusammenhalt zwischen Menschen hervorzuheben und gleichzeitig ihre Unterschiede zu respektieren und zu schätzen. Tatsächlich zeigt sich Toleranz bzw. Akzeptanz von Diversity erst bei direkter Interaktion. Selbst in der LSBTIQ*-Szene berichten Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund von Rassismus innerhalb der Szene und von der Erfahrung, dass sie durch „weiß“ gelesene Menschen abgewertet werden. Auch hier spielen die Themen Macht, Dominanzgesellschaft und Minderheitsgesellschaft eine Rolle.

 

Unter anderem aufgrund dieser Ablehnung möchte sich der Okzident-Orient-Express 2022 einen anderen Rahmen suchen, in dem er seine Botschaften für Vielfalt und Akzeptanz verbreiten kann. Hierfür fehlen dem Verein jedoch die finanziellen Mittel, denn er richtet sich an Menschen, die zumeist arm sind und die Kosten für die Teilnahme am Karneval nicht übernehmen können. Das Konzept des Rosenmontagszugs in Deutschland basiert auf einer starken Trennung zwischen den aktiven Teilnehmer*innen des prachtvollen Zuges und dem jubelnden – aber grundsätzlich passiven – Publikum. Solange dieses Konzept nicht geändert wird, bleibt es für Menschen mit geringen finanziellen Mitteln, zu denen häufig auch Migranten und Geflüchtete zählen, sehr schwierig, sich im Karneval aktiv einzubringen.

 

2021 wurden Ataman und ich aufgrund unseres Engagements für die Kampagne #IchDuWirNRW des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) als Integrationsvorbilder ausgewählt. [Link zur Kampagnen-Website: ichduwir.nrw/atamanundamit ]

 

 

Mehr zu PRADI gibt es hier: www.pradi-nrw.com

 

Fragen: Oliver Erdmann